Nanotechnologie, das weite Meer und warum der Kapitalismus nicht an seinem Ende ist
Wir leben in einer Zeit der Krise des Kapitalismus. Die moderne Informationstechnologie und die mit ihr zusammenhängende Globalisierung, die abhängig ist von dieser modernen Informationsinfrastruktur, haben eine Steigerung der Arbeitsproduktivität ermöglicht, die zu einer eskalierenden Überproduktion geführt hat. Die Produktivität steht sinkenden ArbeitnehmerInneneinkommen und einer sinkenden Massenkaufkraft gegenüber. Durch eskalierende Verschuldungsspiralen, das Drucken von Geld zur Erzwingung niedriger Zinsen und Beschäftigungsmaßnahmen wurde die Krise in den letzten zwei Jahrzehnten hinausgezögert.
Viele Menschen verbringen heute große Teile ihrer Arbeitszeit mit völlig unproduktiven Beschäftigungen, seien es zeitgeistige Fortbildungen, neue Dienstleistungen z.B. in der Überwachungsindustrie, die Verbreitung von Werbung als neuer Form des Stalking von KonsumentInnen, die Akkumulation akademischer Titel, Evaluations- und Antragsschlaufen bei der Mittelvergabe im Kulturbereich, im sozialen Dienstleistungssektor, in der Forschung und Wissenschaft oder das Mobbing von Kollegen, u.a... Teilweise werden auch Arbeitsplätze geschaffen um Löhne zu drücken, so sind die Verwaltungsmitarbeiter von Zeitarbeitsfirmen vollständig unproduktiv, sie erhöhen den Unternehmensgewinn einzig und allein dadurch, dass sie durch Lohnsenkungen und Arbeitsverdichtung die Arbeitskosten der Produktion stärker reduzieren, als sie selbst Kosten verursachen.
Allen gemeinsam ist, dass sie viel Arbeitszeit verschleißen und sich die Handelnden, trotz vollständiger Sinnlosigkeit bis Schädlichkeit ihres Handelns, wichtig vorkommen können.
Insgesamt wird die grassierende Unterbeschäftigung durch ein Aufblähen des sekundären Sektors retuschiert.
Gleichzeitig bilden sich gigantische Finanzblasen an überschüssigem Kapital, für das keinerlei produktive Anlagemöglichkeit mehr besteht. Deutlich sichtbar an der galoppierenden Investitionsgüterinflation, die sich in rapide steigenden Aktienkursen zeigt. Die steigenden Immobilien- und Aktienpreise haben sich dabei längst vor realwirtschaftlichen Realitäten entkoppelt. Der Zusammenbruch dieses Systems ist innerhalb des nächsten Jahrzehnts erwartbar, vielleicht auch Morgen.
Soweit stimme ich mit den KrisentheoretikerInnen überein. Und auch darin, dass diese Krise massiver ausfallen wird als vorhergehende Krisen, z.B. die Krise der 1920er Jahre, stimme ich ihnen zu.
Und doch widerspreche ich ihnen entschieden.
Die KrisentheoretikerInnen gehen davon aus, dass es diesmal kein Nach-Der-Krise gibt, dass es keine neue Akkumulationsphase geben wird, keine neue Phase eskalierenden Wachstums nach der Krise. Keine erneute Phase der Vollbeschäftigung in den entwickelten Ländern der kapitalistischen Ökonomie. Sie gehen davon aus, dass der Kapitalismus dabei ist am Wachstum seiner Produktivität zu Grunde zu gehen.
Ich hingegen gehe davon aus, dass wir, falls wir alles so laufen lassen, wie es zur Zeit läuft und das liegt in unser aller politischen Entscheidung, im 21ten Jahrhundert eine Akkumulationsphase erleben werden, die wiederum alle vorhergehenden weit übertreffen wird, ein industrielles Wachstum demgegenüber die heutige Weltwirtschaft, das heutige Weltbruttosozialprodukt, wie ein Fliegenschiss gegenüber einem Haufen Hundekot wirken wird.
Die KrisenprophetInnen haben zwei zentrale Argumente auf Grund derer sie eine erneute Akkumulationsphase für unmöglich halten:
- die ökologischen Folgen und die mangelnden Rohstoffe,
- und die Annahme, dass der Arbeitsaufwand, der in einem Produkt materialisiert ist, immer nur sinken kann auf Grund der fortschreitenden Rationalisierung der Produktion.
Beide Argumente basieren auf einem grundlegenden Nicht-Verstehen der Funktionsweise des Kapitalismus. Ich möchte dazu die Entwicklung eines Teilsektors der Produktion zu Beginn des 20ten Jahrhunderts betrachten, der Landwirtschaft.
Im 19ten Jahrhundert konnte die für die Industrialisierung notwendige Ertragssteigerung in der Landwirtschaft nur noch mit exzessiver Düngung erreicht werden, diese schien aber durch die Guanovorkommen begrenzt. Ein Ende war absehbar. Zuerst führte dies zu Preissteigerungen und Quasimopolbildungen für Guano. Im 19ten Jahrhundert wurden deshalb mehrere Kriege um Guano geführt und die USA erließen ein Gesetz, das es erlaubte Inseln mit Guanovorkommen zeitweise zu US-Territorium zu erklären.
Die Preissteigerungen und die Blockade Deutschlands im 1ten Weltkrieg führten in der Folge dazu, dass industrielle Produktionsprozesse für Kunstdünger entwickelt wurden und ihr Einsatz lohnenswert wurde. Der massenhafte Einsatz von Kunstdünger führte wiederum dazu, dass die Erträge in der Landwirtschaft erneut massiv gesteigert werden konnten. Dieses Wachstum führte in der Kunstdüngerproduktion und der Lebensmittelindustrie zu massiven Wachstums- und Beschäftigungseffekten.
Der Abbau eines Rohstoffes (Dünger) wurde ersetzt durch die Produktion eines Ersatzrohstoffes (Kunstdünger). Dabei wurde der Arbeitsaufwand zur Produktion des Produktes kurzfristig erhöht, Kunstdünger zu produzieren war arbeitsaufwendiger als Guano abzubauen, trotzdem aber lohnend auf Grund der Monopolisierung des Guano und der dadurch bedingten hohen Preise bzw. mangelnden Verfügbarkeit. Mittelfristige Rationalisierungsgewinne in der Kunstdüngerproduktion wurden mehr als ausgeglichen durch das Mengenwachstum beim Absatz insbesondere auch der Folgeprodukte. Insgesamt ergab sich ein massiv positiver Arbeitsmarkteffekt.
Die konservativ marxistische Lesart der KrisentheoretikerInnen geht davon aus, dass die kapitalistische Entwicklung in der Produktion nur eine Richtung kennt. Nach ihnen sinkt die Arbeitsintensität, die in jedem Produkt steckt durch Rationalisierung kontinuierlich, was in der Folge zwangsläufig zu Überproduktionskrisen führt. Sie übersehen dabei, dass dies für die Produktkategorie der Rohstoffe nicht gilt. Für Rohstoffe gilt das Gegenteil. Durch ihre Vernutzung bei begrenzter Vorhandenheit steigt ihr Preis mit zunehmender Nachfrage, was in der Folge dazu führt, dass zuerst die Arbeitsintensität zu ihrem Abbau vergrößert wird, um dann sogar ihren Ersatz durch industriell mit hohem Arbeitsaufwand produzierte Ersatzstoffe rentabel zu machen. In der Folge gibt es zwar eine massive Rationalisierung des Produktionsprozesses des Ersatzstoffes, diese wird aber überkompensiert durch ein eskalierendes Mengenwachstum, dass nicht nur die direkte Ersatzstoffproduktion sondern auch alle Folgeprodukte erfasst.
Rohstoffkrisen sind insofern keine Bedrohung für den Kapitalismus, sondern ganz im Gegenteil seine Rettung. Rohstoffkrisen sind die weißen Ritter des Kapitalismus, die ihn davor bewahren am Wachstum seiner Produktivität zu Grunde zu gehen.
Wir stehen heute nicht nur vor der größten Überproduktionskrise des Kapitalismus, sondern auch vor der absehbar größten Rohstoffkrise. Diese Rohstoffkrise wird den Kapitalismus retten, da sie, wie oben dargestellt, antizyklisch zur Überproduktionskrise wirkt. Wir stehen im 21ten Jahrhundert vor einem gigantischen Akkumulationszyklus getrieben von der flächendeckenden Industrialisierung der Rohstoffproduktion. Und die zentralen Akteure des Kapitalismus, Konzerne, Forschungseinrichtungen, Staaten, internationale Gesetzgebung sind längst dabei entsprechende Strategien umzusetzen.
Schon unter Bill Clinton hat Amerika die Ozeane als New Frontierland der kapitalistischen Vernutzung benannt. Seit dem gibt es mit massiven Geldmitteln und massiven legislativen Bemühungen beförderte Projekte zur Erschließung der Ozeane für die kapitalistische industrialisierte Nutzung. Dazu gehören Kartographierungen, dazu gehört Craig Venters Genomkartierung der Ozeane, dazu gehört die Ausweitung der Bedeutung der 200 Meilen Zone zuerst durch die USA und dazu gehören die systematische Verbesserung der gesetzlichen Rahmenbedingungen und der Ausbau internationaler Vertragswerke, um Investitionssicherheit zu gewährleisten. Und auch die 'neue' pazifische Bündnisstrategie der USA ist unter diesem Gesichtspunkt zu sehen.
Gleichzeitig werden Forschungsprojekte zur Nutzung maritimer Ressourcen mit Milliarden gefördert. Dabei geht es nicht nur um eine Ausweitung klassischer Rohstoffförderung und Fischfarming, sondern eben auch um die Nutzung neuer biologischer Ressourcen für die Rohstoffproduktion. Die kapitalistische Vernutzung der Ozeane ist für die USA ein strategisches Projekt dem durchaus ähnliches Gewicht beigemessen wird, wie dem Internet und der Informationstechnologie.
Parallel wird die Nanotechnologie weltweit mit vielen Milliarden gefördert. Nanotechnologie ist primär eine Technologie, die es erlaubt Stoffe auf der Größenordnung einiger Moleküle zu manipulieren, um Ihnen spezifische Eigenschaften aufzuprägen (Festigkeit, Leitfähigkeit, u.a.). Letztendlich handelt es sich bei einem Großteil der nanotechnologischen Forschung um die Entwicklung von Verfahren zur Produktion von Rohstoffersatzstoffen aus bisher nicht als Rohstoff tauglichen Stoffen. Ein Teil dieser Forschung befasst sich dabei gezielt mit der Nutzung nachwachsender Ressourcen. Letztendlich geht es darum viele Rohstoffe, die heute in der Industrieproduktion Verwendung finden, durch gezielt produzierte Rohstoffe zu ersetzen. Zur Zeit sind diese Verfahren noch teuer und Energie intensiv.
Sowohl die Nanotechnologie, als auch die Nutzung der Ozeane werden vermutlich in 10 bis 20 Jahren den Punkt erreichen an dem eine großindustrielle Nutzung umsetzbar wird. Gehen wir parallel von weiter steigenden Rohstoffpreisen aus, ist das Szenario absehbar.
Irgendwann wird der Punkt erreicht sein, an dem es bei spezifischen Rohstoffen billiger sein wird Ersatzprodukte zu produzieren mit Hilfe von großindustriellen Algenfarming oder dem Anbau von Mikroorganismen und nanotechnologischen Aufbereitungsverfahren, als die Förderung der letzten verbliebenen natürlichen Rohstoffvorkommen zu betreiben. Dann wird der bereits beschriebene Kreislauf einsetzen, die nun durch Rationalisierung immer günstiger zu produzierenden Rohstoffe werden zu einem massiven Mengenwachstum auch der Folgeprodukte führen. Nach dem die ersten Rohstoffe erfolgreich ersetzt worden sind werden in immer kürzeren Abständen weitere folgen.
Die Ozeane machen sieben Zehntel der Weltoberfläche aus. Sie liefern gigantisch Platz für ein solches Mengenwachstum. Am Ende des 21ten Jahrhunderts werden vermutlich dann große Teile der Ozeane durch Rohstofffarming genutzt werden für eine kapitalistische Weltwirtschaft, die ein vielfaches des heutigen Bruttosozialproduktes umsetzen wird. In Teilgebieten wird es Reservate für die letzten verbliebenen Wildfischbestände geben. Der Fischbedarf wird durch Fischfarmen gedeckt. Der Energiebedarf kann dabei durch regenerative Energien gedeckt werden, wir nutzen heute nur einen Bruchteil der eingestrahlten Sonnenenergie und der Windenergie, insbesondere über den Ozeanen.
Heute befinden wir uns auf der Vorstufe davon. Vergleichbar dem 19ten Jahrhundert in Nordamerika, als die Bisonherden abgeschossen wurden.
Die Piraterie vor Somalia ist historisch vergleichbar mit der 'Kriminalität' der indigenen Bevölkerung Nordamerikas (den 'IndianerInnen'). Nach Abschlachtung der Bisonherden fehlte der indigenen Stammesbevölkerung Nordamerikas die Nahrungsgrundlage, übrig blieben Kriminalität oder Almosen, dies entspricht der Situation der Küsten nahen Fischereibevölkerung Somalias, der nach Plünderung ihrer Fischbestände durch internationale Fangflotten nur noch die Wahl zwischen Hunger und Piraterie bleibt. Die Piraten Somalias sind die 'Indianer' der Neuzeit.
Und genauso wie die Abschlachtung der Bisonherden für die nachfolgende Farmnutzung der Landflächen notwendig war, ist auch die Überfischung und systematische Reduzierung der Fischbestände bis zur Ausrottung funktional. Sie ist geradezu Voraussetzung für die zukünftige Nutzung der Weltmeere als Rohstofffarmland. Wildfischbestände würden ja nur, vergleichbar Heuschreckenschwärmen, den Ernteerfolg gefährden. Im Sinne der Optimierung der kapitalistischen Vernutzung ist die derzeitige Meerespolitik mit ihrer impliziten Ausrottung der Wildfischbestände rational, der erste Schritt auf dem Weg zur Umstrukturierung der Nutzung der Ozeane zur industrialisierten Aquakulturfläche.
Als Anmerkung wäre zu ergänzen, die potentielle Zukunft der Ölscheichtümer ist gut am Beispiel der Guanoabbaugebiete nachzuvollziehen, verseuchten Gebieten aus denen inzwischen die letzten BewohnerInnen fliehen. Der Ölpreis wird mit der Weiterentwicklung regenerativer Energien irgendwann sinken. Dies würde, im Fall, dass die Scheichtümer dem Beispiel der Guanoabbaugebiete folgen, zur Ausweitung der Ölförderung mit fragwürdigen Methoden führen. Fracking bis zur vollständigen Vernichtung der Lebensgrundlage bei gleichzeitigem Abfluss des Kapitals.
Nichts hiervon muss notwendig geschehen. Falls wir der kapitalistischen Entwicklung aber nicht Alternativen gegenüber stellen und für diese kämpfen, halte ich eine zumindest teilweise dem dargestellten entsprechende Entwicklung für wahrscheinlich. Die kapitalistische Durchdringung der Welt, ihre Zerstörung und Neuorganisation nach Verwertungsprinzipien, hat gerade erst begonnen. Falls wir dem Kapitalismus nicht entschlossen entgegentreten, werden in hundert Jahren nicht nur die Wälder nur noch Baumplantagen sein, sondern auch die Ozeane die Algenmaisfelder der Rohstoffproduktion. Einhergehen wird dies mit einer entsprechenden Reduktion der Vielfalt unserer Umwelt. Aber der Untergang der Menschheit oder des Kapitalismus wird dies nicht sein.
Katastrophen für die Menschen sind nicht automatisch Katastrophen für den Kapitalismus. Der zweite Weltkrieg war ein Fest für den Kapitalismus, die Klimakatastrophe wird ebenfalls ein Fest für ihn werden. Zerstörung schafft Wachstumsimpulse. Auch ökologische Katastrophen schaden dem Kapitalismus nicht, sie nutzen ihm, da sie Nachfrage nach Ersatz generieren. Auch dies Übersehen die KrisentheoretikerInnen, 50 Millionen, 500 Millionen oder 1 Milliarde Tote sind für den Kapitalismus kein Problem, nur für die Menschen, für uns.
Die KatastrophentheoretikerInnen der Kapitalismuskritik werden plötzlich nackt dastehen, sobald nach dem vorausgesagten Zusammenbruch sich der Kapitalismus doch wieder erholt. Und eine Kapitalismuskritik, die ihnen folgt, wird spätestens mit der nächsten Boomphase jedes Fitzelchen an Glaubwürdigkeit verlieren.
Wir brauchen eine Kapitalismuskritik jenseits des Katastrophismus, die sich wieder die Arbeit macht, ihn als das zu entlarven, was er ist, eine gigantische Maschinerie der Fremdbestimmung. Nur dann und wenn wir Alternativen aufzeigen werden wir etwas ändern.
Das Problem mit dem Kapitalismus ist nicht, dass er nicht funktioniert, sondern, wie er funktioniert.
— Ein Anarchist —, Februar 2022
Ende
Aktualisiert 22.05.2023