Still Not Normal


Eine Kritik des neuen Normalismus und der autoritären Affirmation des Staates und der Gesellschaft durch selbstfirmierte nicht autoritäre Linke

Ein zentraler Aspekt, der mich als Jugendlicher Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre zum Anarchismus und zur nicht autoritären Linken hingezogen hat, war ihre klare Positionierung gegen die Normalität, ihre Kritik an den Forderungen der Gesellschaft an das Subjekt, die Kritik an der normierenden Alltagsgewalt, die weit über die juristischen Festlegungen hinausreicht. Die Ziele der nicht autoritären Linken beinhalteten eine Ausweitung der Toleranz für diejenigen, die nicht den Normen entsprachen oder sich ihnen bewusst verweigerten. Und damit war dort auch ein Raum, in dem ich das erste mal ohne Druck zur Anpassung/Unterordnung und der dadurch bedingten permanenten Notwendigkeit des Widerstandes agieren konnte, im Gegensatz zum Schulalltag mit seinen häufigen Auseinandersetzungen.

Seit ca. 20 Jahren nehme ich aber eine Entwicklung in der Linken, auch in ihrem nicht autoritärem Teil, wahr, durch die diese in immer größeren Bereichen selbst zum Teil des normativen Systems wird. Zwei Beispiele:

1) Auch in in den 1990er Jahren war das Verhältnis der feministischen und queeren Szene zur Normerfüllung bereits ambivalent. Das Bedienen von Körper-und Leistungsnormen und der neue Chique des Chiquen wurde aber zumindest kritisch hinterfragt. Das Buch Backlash - Die Männer schlagen zurück von Susan Falludie (US 1991 / D 1993), mit einer fundierten Kritik der reetablierten Ansprüche an den Körper der Frau und seine Repräsentation, wurde weit diskutiert. Und Coming Out Filmen wie Kommt Mausi raus?! (D 1994), die selbst Normen duplizierten gegenüber anderen aus der heterosexuellen Ordnung normativ ausgegrenzten bzw. in dieser abgewerteten, in diesem Fall gegenüber den sexuell Erfolglosen(1), standen Filme gegenüber, die gerade die normativen Erwartungen als Problem benannten, wie z.B. Eileen is a Spy (1998), ein Film in der die selbst außerhalb der Norm stehende Protagonistin Eileen die alltäglichen Verhaltensweisen mit einem eher ethnologischen Blick betrachtet. "Seit ich sehr jung war, fühlte ich mich wie eine Betrügerin", sagt sie und gesteht später, dass sie "die Menschen oder das, was sie wollen", nicht verstehe(2). In aktuellen Filmen finden solche Hinterfragungen kaum noch statt. Es ist inzwischen auch in der Szene weitgehend unhinterfragt, dass die ProtagonistInnen normativen Erwartungen entsprechen müssen, es geht mehr darum, die eigene Identität zum Teil des Normativen zu machen, den eigenen Weg in die Normativität zu finden, und 'die Anderen' als z.B. rückständig auszugrenzen, oft mit denselben Klischees mit denen früher Schwule und Lesben belegt wurden. Die Szene ist nun zumindest im progressiveren Teil der Gesellschaft in der Normalität angekommen, dies ist für aus der LGBTIQA+ Szene kommende Menschen ein Fortschritt, sie werden damit aber gleichzeitig vom Teil der Lösung zum Teil des Problems, sind sie doch nun selbst tragender Teil eines Gesellschaftssystems, das strukturell auf Gewalt basiert.

2) Vor einigen Wochen bin ich auf einen Text über ein Buch zur Analyse und Kritik der us-amerikanischen radikalen Rechten gestoßen. Das Buch hat den Titel Kill all Normies, der Titel verweist auf eine rechtsradikale Meme. Als Leser von Manga war mir sofort klar, dass die US-Rechte diese Meme aus linksorientierten Manga übernommen hat(3). Das ist, da die im Buch analysierten Teile der Neuen Rechten der USA das Mangaforum 4chan(4) für ihre Organisation und Agitation genutzt haben, nicht verwunderlich. Erstaunlich war aber für mich, dass es in unterschiedlichen im Internet zu findenden Kritiken zum Buch und Aufgriffen aus linker Sicht nicht eine Auseinandersetzung mit diesem Aufgriff linker Kritik am Normalismus durch Rechte gab. Offensichtlich hat ein erheblicher Teil der Linken gar kein Problem mehr damit, funktionierender tragender Teil dieser Gesellschaft zu sein. Ohne Wissen um die Umwidmung durch die US-Rechte, hätte ich die Meme hingegen auch inhaltlich eindeutig als linke Meme begriffen und das 'Kill' einfach als rhetorische Überzeichnung.

Zwar würde ich nicht soweit gehen zu sagen, es gibt kein richtiges Leben im Falschen, aber es gilt doch, je weiter ich mich auf diese (falschen) Gesellschaftsstrukturen einlasse, desto weniger richtiges werde ich tun. Das heißt, das Funktionieren in dieser Gesellschaft sollte jeder und jedem ein Alarmzeichen sein. Und dies war zumindest im nicht autoritären antietatistischen Teil der Linken lange Konsens. Dazu sei nur auf ein vielfach in der 1980er und 1990er Jahren aufgegriffenes Zitat von Günther Eich aus den 1950er Jahren verwiesen:

"Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen.
[..]
Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem,
seid Sand,
nicht das Öl im Getriebe der Welt!"

(1950 - Hörspiel-Zyklus 'Träume')

Dies scheint aber in weiten Teilen auch der nicht autoritären Linken nicht mehr zum Konsens zu gehören.

Zugespitzt haben sich diese Veränderungen innerhalb der Linken nun noch einmal im Rahmen der Pandemie. In diesem Kontext haben nicht nur viele Menschen, die sich reformistisch(5) oder als 'liberal' verstehen, ihren politischen Standpunkt weit ins postdemokratische rechtsautoritäre Spektrum verschoben, sondern auch im erheblichen Ausmaß Menschen, die sich selbst der nicht autoritären oder gar anarchistischen Linken zuordnen. Was verstehe ich unter dieser Verschiebung hin zum Autoritarismus? über Jahrzehnte war es Konsens innerhalb der nicht autoritären antietatistischen und insbesondere der anarchistischen Linken,

- dass der Staat das Problem und nicht die Lösung ist. Dass die Herrschaftszugriffe des Staates (auf die einzelnen Menschen) begrenzt werden müssen, möglichst reduziert, und dass es langfristig darum geht, den Staat abzuschaffen(6).

- dass der Schutz von Minderheiten gegenüber den Zugriffen der Macht (Staat, Konzerne, ...) und der Normalisierungsagenturen (Medizin, Polizei, ...)(7), dass die Begrenzung der Macht dieser Institutionen und langfristig(8) ihre Auflösung, Voraussetzung für jede befreite Gesellschaft ist,

- dass es zentral ist, die Selbstorganisationsfähigkeit der Menschen zu stärken und Strukturen der freien Vereinbarung und gegenseitigen Hilfe(9),

- und dass bezogen auf diese Gesellschaftsverfassung Widerstand zentral ist, da in ihr die Gewaltverhältnisse in die Fasern der Gesellschaft eingeschrieben sind(10).

Nun hat sich sachlich nichts wesentliches geändert. Kaum jemand aus der nicht autoritären Linken wird ernsthaft behaupten wollen, der Staat wäre weniger gewaltsam, als in der 1970er oder 1980er Jahren oder die Gesellschaft wäre sozial gerechter. Angesichts der eskalierenden Einkommensunterschiede, angesichts Harz IV, des Umbaus der Hochschulen zu Institutionen der Dressur durch permanente überwachung mit Creditpointsystemen, immer weiter verschärfter Polizeigesetze, zunehmender Körperdisziplinierung und angesichts des Ausbaus der Überwachungstechnologien wäre dies offensichtlicher Unsinn. Eigentlich müsste dies dazu führen, dass nicht autoritäre oder gar anarchistische Linke mit noch mehr Entschlossenheit ihren aus der Erfahrung gewonnenen Überzeugungen folgen.

Die Realität während der Pandemie sah aber genau umgekehrt aus, statt die Übergriffe der Staates auf die Freiheitsrechte der Menschen kritisch zu hinterfragen, wurden auch von Menschen, die sich selbst der nicht autoritären antietatistischen Linken zuordnen, möglichst noch weitergehende Maßnahmen und ein noch massiverer Ausbau staatlicher überwachung und Repression gefordert(11). Sicher können Menschen im Einzelfall in einer Notsituation sich gezwungen sehen, ihren eigenen überzeugungen entgegen zu handeln. In solchen Fällen äußert sich dies aber in der Regel durch zumindest nachgereichte umfassende Auseinandersetzungen mit dem Widerspruch, der hier entstanden ist, und durch Darlegung der Ausnahmelegitimation und Abwägung des Schadens, der durch das eigene Handeln im Gegensatz zu Grundüberzeugungen verursacht wurde. Nichts dergleichen fand aber hier statt. Ganz im Gegenteil, Menschen, die diese Abwägungen, des durch die Pandemiepolitik verursachten Schadens und der langfristigen politische Folgewirkungen derartiger Totalermächtigungen staatlicher Organe, bezogen auf das körperliche Selbstbestimmungsrecht und die Würde des Einzelnen, einforderten, wurden in Umkehr der politischen Realität als autoritäre Rechte diffamiert. Wie ist dies zu erklären?

Nochmal, mir geht es hier nicht um den Dregger-Flügel(12) der Grünen, der inklusive des entsprechenden Revanchismus(13) inzwischen die Partei übernommen hat. Spätestens seit dem Angriffskrieg gegen Serbien ist der militaristische Wandel dieser Partei bekannt. Das dem inzwischen auch die entsprechende Einstellung zur Affirmation eines autoritären Staates mit Ausbau der entsprechenden Überwachungs- und Polizeistrukturen folgt, ist nur konsequent und war nicht anders zu erwarten(14). Hier geht es hingegen um die antietatistische nicht autoritäre Linke, für die über Jahrzehnte die Kritik solcher auf die Menschen bezogenen Machtpolitiken, wie sie neben den anderen im Parlament vertretenen Parteien heute auch die Grünen verkörpern und zunehmend auch die Linkspartei, Kern ihrer politischen Analysen war. Wie kann es sein, das Teile dieser, sich selbst als nicht autoritär verstehenden, Strukturen auf einmal autoritäre Politiken vertreten, ohne dies überhaupt auch nur im nennenswerten Maßstab kritisch zu reflektieren?

Zuerst habe ich für mich zur Erklärung auf das Milgram-Experiment(15) zurückgegriffen, das die Bereitschaft untersucht hat, mit der Menschen ausgewiesenen (medizinischen) Autoritäten folgen. Ein Verhaltensmuster, welches im NS für die Herrschaftsdurchsetzung von zentraler Bedeutung war(16). Nach einigem Nachdenken halte ich diese Verhaltensmuster zwar für relevant bezogen auf die allgemeine Bevölkerung(17) (neben vielen anderen wirksamen Faktoren), aber für die sich zum rechts-autoritären Sicherheitsstaat wendenden und sich selbst dabei weiterhin als antiautoritär links begreifenden AktivistInnen trifft dies aus meiner Sicht nicht zu. Insbesondere deshalb, weil sie sich dort, wo Fachleute zur Mäßigung bei den Maßnahmen aufgerufen haben, auch gegen diese Fachleute gewandt haben und weil sie sich selbst real weiterhin als KämpferInnen für die linke Utopie begreifen. Außerdem habe ich ja bereits am Anfang dieses Textes auf die Historizität dieser Entwicklung verwiesen, die nicht erst mit der Pandemie begonnen hat.

Der sich zur Affirmation des autoritären Staates und seiner normativen Körper- und Medizinpolitik wendende, sich selbst dabei aber weiter als nicht autoritär verstehende, Teil der Linken scheint in einer Parallelrealität alternativer Fakten zu leben. Dies ist hier weder polemisch noch abstrus gemeint. Faktische Realitäten ergeben sich real aus faktischen Sachlagen und ihrer Interpretation in einem Gesamtbild, nur beides zusammen konstituiert ein Verstehensnarrativ. Faktische Sachlagen alleine sagen gar nichts aus. Das hängt damit zusammen, dass es grundsätzlich unendlich viele faktische Sachlagen gibt und Bedeutung erst aus ihrer Korrelation und einer damit einhergehenden Auswahl, als relevant angesehener faktischer Sachlagen, entsteht. Bezogen auf die Pandemie lässt sich dies anhand einiger Fragen leicht darstellen:

- Ist die Würde des Menschen, verkörpert z.B. im Recht auf körperliche Selbstbestimmung oder das nackte überleben zentral als Ziel, oder muss dies abgewogen werden?

- Sind faktische Sachlagen allein statistisch erfassbare quantitative Daten oder auch das Fühlen der Menschen oder auch die nicht quantitativ fassbare Lebensqualität? Und wie ist dies zu gewichten?

- Müssen Maßnahmen nur nach ihrer kurzfristigen Zielerreichung bezogen auf die Unterbindung von Ansteckungen oder auch bezüglich ihrer politischen und sozialen langfristigen Folgen für die Gesellschaft und die Herrschaftsstrukturen durchdacht werden?

- Sollen Fachleute mit sehr begrenzten auf ihr Spezialgebiet bezogen Blick Entscheidungen treffen, die die Subjekte und die gesamte Gesellschaft massiv betreffen, oder sollten diese nicht Ergebnis öffentlicher Debatten und kontroverser Entscheidungsprozesse sein?

- Was bedeutet die Garantie der Religion- und Weltanschauungsfreiheit noch, wenn sie zugunsten des Weltbildes der statistisch verkürzten naturwissenschaftlichen Weltanschauung ohne große Diskussion außer Kraft gesetzt werden kann?

Es ließen sich viele weitere und noch weitergehende Fragen stellen. Deutlich wird, das für die Entscheidung, was als faktische Sachlage begriffen wird, welche Fakten als relevant angesehen werden und wie diese bewertet werden, der Rahmen, also das was als normativ unhinterfragbar begriffen wird, von entscheidender Bedeutung ist.

In den 1950er und 1960er Jahren gab es hier einen relativ klaren und engen Rahmen, der von einem Großteil der Bevölkerung als normativ gültig akzeptiert wurde. Diese Norm beinhalte zum Beispiel die Absolutsetzung zweier biologischer Geschlechter und feste Rollenerwartungen. Sie beinhalte auch, dass von eng gefassten heterosexuellen Normen abweichende Geschlechtspraxen als pervers angesehen wurden. Faktische Sachlagen wurden grundsätzlich nur innerhalb dieses Rahmens aufgegriffen und bewertet. Ab Ende der 1960er in den 1970er und 1980er Jahren gelang es Basisbewegungen diese Normalität aufzulösen und neue Freiräume in vielen Bereichen der Gesellschaft zu eröffnen, dies betraf Frauen, sexuelle Praxen, das Zusammenleben in WGs und vieles mehr. Spätestens seit dem Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahren findet aber eine Reetablierung normativer Setzungen und ihre erneute Verengung statt, wenn auch in verschobener Form. Im folgenden nur einige Beispiele dafür:

- Die seit Ende der 1980er Jahren wieder zunehmenden Körpernormen und -disziplinierungen, sei es bezogen auf Körperhaare und ihre Entfernung, auf die Hygienisierung der Sexualität im Kontext des AIDS-Diskurses oder auf die massiv zunehmende Medikalisierung von Verhaltensabweichungen, z.B. ADHD bei Kindern, Depression u.a..

- Die Zunahme disziplinatorischer Gesundheitsdiskurse inklusive Zwangsmaßnahmen, z.B. zur Diskriminierung von RaucherInnen, und die Zunahme der Therapheutisierung und der medizinischen Überwachung der Subjekte. Dabei wird hier Medizin im Sinne Michel Foucaults u.a. als zweiter Bereich staatlicher/ gesellschaftlicher Normierungs- und Disziplinargewalt neben der Polizei begriffen. Historisch ist die Entwicklung der modernen Polizei und der modernen Medizin der Analyse Michel Foucaults folgend nicht voneinander zu trennen.

- Die zunehmende Retabuisierung des nackten Körpers, bzw. seine Überdeterminierung. Am deutlichsten sichtbar im Vergleich des relativ unverkrampften Umgangs mit Nacktheit an den FKK-Stränden der DDR und in DDR-Filmen mit dem aktuellen Umgang mit Nacktheit, z.B. in den Medien(18).

- Galt in den 1980er Jahren eine Weile bzgl. Kleidung everything goes, ist auch in diesem Bereich der Anspruch an die Angemessenheit wieder verengt worden.

Nun werden eine Reihe LeserInnen dieses Textes einwenden, die oben genannten medizinisch begründeten Körperpolitiken würden doch objektiven Fakten folgen und wären in dem Sinn als Vernunft- und nicht als Gewaltpraxis aufzufassen. Darin zeigt sich aber gerade ihre Verankerung in einem neuen Normalismus, der diese Begründungen als unhinterfragbar setzt und vergleichbar dem alten Normalismus der 1960er Jahre wirksam ist, nur das damals die Menschen mit der selben Sicherheit festgestellt hätten, dass Homosexuelle doch objektiv pervers wären - und auch damit hätten sie sich in den 1960er Jahren auf den Stand der medizinischen Wissenschaft berufen können. Nun können bestimmte normalistische Setzungen richtig und andere falsch sein. Das Problem liegt in ihrer Absolutsetzung, die einen Diskurs über diese Frage gerade ausschließt, und insbesondere auch eine kontextbezogene Bewertung unmöglich macht, da die normativen Setzungen gerade den Bereich des nicht diskutierbaren festlegen. Das heißt das Problem liegt im Normalismus an sich. Eine Linke, die sich als nicht autoritär oder gar als anarchistisch versteht, muss deshalb den Normalismus an sich ablehnen. Deutlich wurde dies gerade im Coronadiskurs und noch deutlicher tritt dies im aktuellen Diskurs zum Ukrainekrieg zutage. In beiden Situationen wurden durch AkteurInnen, die große Teile der Öffentlichkeit dominieren, die Grenzen des Normalismus radikal verändert und weiter verengt. Menschen, die sich diesen neuen normalistischen Regimen verweigerten, wurden systematisch stigmatisiert.

In der Pandemie steht dafür mehr noch als die Politik selbst, das Tabu ihrer kritischen Hinterfragung. So wurden systematisch alle, die es wagten, den normativ gesetzten Rahmen des RKI in Frage zu stellen, diffamiert, ausgegrenzt und teils auch kriminalisiert bis hin zum neuen Verfassungsschutzbereiches der 'Delegitimierung des Staates', der in Betrachtung der Diskurse, um die es da geht, an sich als Verfassungschutzbereich 'Widerstand gegen den neuen Normalismus' bezeichnet werden müsste. Erhebliche Teile, auch der sich selbst als nicht autoritär und teils sogar anarchistisch begreifenden, Linken haben dies nicht selten unkritisch übernommen bis hin zur Verpartnerung mit einem Repressionsorgan wie dem Verfassungsschutz.

Für den Ukrainekrieg stehen für diese Form des einschränkenden Normalismus z.B. Aussagen des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages Michael Roth:

"Wir alle wissen, dass ohne Biden, ohne die Vereinigten Staaten von Amerika, die Ukraine diesen Krieg schon längst verloren hätte und Russland schon dabei wäre, Moldau oder irgendein anderes Land anzugreifen.
[...]
Wenn Sie mich so offen fragen, Herr Warweg, und diese schmerzhaften Gewissheiten muss man ja einfach mal sagen, kann ich mir unter Putins Regime keine Annäherung mehr vorstellen. Wir müssen uns jetzt, und das geht mit erheblichen Kosten einher, dauerhaft aus der Energieabhängigkeit von Russland befreien.
[...]
Die NATO hat ja jetzt auch in Madrid beschlossen, die größte Gefährdung für Frieden geht von Russland aus und dem müssen wir natürlich auch Rechnung tragen.
[...]
Es haben ja nicht alle Deutschen ihren Frieden mit der klaren Westbindung geschlossen. Aber mittlerweile wurden diese Stimmen, die den Eindruck erwecken wollten, als sei die NATO mit schuld an diesem Krieg, Lügen gestraft. Diese Kritik wird jetzt nur noch von einigen Ewiggestrigen geführt, die mich als Kriegstreiber bezeichnen."(19)

Ausgehend von den normativen Setzungen, die in diesen Sätzen stattfinden, gibt es dann tatsächlich keine Alternative, und alle die diese Normsetzungen in Frage stellen sind Ewiggestrige. Ein Begriff, der klassisch für AkteurInnen vorbehalten war, die die Verurteilung des NS-Regimes in Frage stellten und z.B. revanchistische Positionen vertreten haben, wie sie heute im Kontext der Legitimation der Aufrüstung der Ukraine in der taz(20) vertreten werden. In der Verdrehung wird dieser Begriff hier nun im neuen Normalismus auf AntimilitaristInnen umgemünzt. Für die Behauptung Russland hätte vorgehabt weitere Länder anzugreifen gibt es keinerlei Belege, im Gegenteil, die relativ geringe Zahl mobilisierter Truppen schließt dies so gut wie aus. Und den Anteil der NATO an der Zuspitzung des Konfliktes zu leugnen ist schlicht Verleugnung der Realität. Verfolgt man die über Jahrzehnte geführten Diskussionen zur NATO-Osterweiterung war diese Problematik auch allen bewusst. Sprechend ist hier der Satz "die NATO hat ja jetzt auch in Madrid beschlossen, die größte Gefährdung für Frieden geht von Russland aus" - hier wurde eine neue normative Richtlinie für die Öffentlichkeitsarbeit beschlossen und keine Tatsache festgestellt.

Für die Teile der, sich selbst als nicht autoritär begreifenden, Linken, die diesem Normalismus weitgehend unkritisch übernommen haben, ist es aber aufgrund der Normsetzungen des neuen Normalismus bezogen auf die Pandemie kein Widerspruch zu ihrem nicht autoritärem staatskritischen Selbstverständnis, wenn sie die autoritären Politiken des Staates in der Pandemie übernommen haben. Eine Infragestellung war durch die Übernahme der normativen Setzung aus ihrer Sicht genauso unsinnig, wie es die Infragestellung des Fallgesetzes wäre. Das gleiche Phänomen lässt sich im Fall den neuen Militarismus befürwortender, sich selbst aber weiter als AntimilitaristInnen begreifender, Linker beobachten. Für diejenige, die die normative Setzung 'Putin=Völkermörder=Größte Bedrohung des Friedens' übernimmt, gibt es keine Handlungsalternative und der neue Militarismus wird zum Friedensdienst.

Real sind hier aber unreflektiert Herrschaftsinteressen übernommen worden. Solange diese Mechanismen nicht von den Betroffenen selbst analysiert und kritisch hinterfragt werden, ist eine klare Abgrenzung von diesen ehemals nicht autoritären Linken notwendig und wo möglich ihre Ausgrenzung aus diesem Teil der Linken.

Die Neudefinition der Festlegungen des Normalismus ist eine Machttechnik die einer Politik des 'There Is No Alternative (TINA)' den Weg bereitet. Zu ihrer Durchsetzung bedarf es aber ausgeweiteter Kontrollen der öffentlichen Diskurse. Genau dieser Versuch, eine solche Kontrolle aufzurichten, findet zur Zeit statt, durch die veränderten Gesetze zu den Kontrollbefugnissen der Landesmedienanstalten, zu Fakenews und zur Kooperation mit den Konzernen, die wichtige Schnittstellen und wesentliche Teile des Informationsflusses im Internet kontrollieren. Nochmal eine nicht autoritäre oder gar anarchistische Linke muss hier entschieden Widerstand leisten. Die Diskurse müssen geöffnet werden für eine kontextbezogene Diskussion der Sachlagen, die durch den Normalismus verhindert wird. Ein Beispiel dafür ist die Notwendigkeit, den Ukrainekrieg in der historischen Entwicklung zu analysieren, die zu ihm geführt hat, inklusive der Anteile die die NATO- und EU-Politik an der Zuspitzung hatte. Ohne dies wird es keine Lösung des Konfliktes geben, die nicht zu immer neuen Konflikten, dauerhaften Spannungen oder gar katastrophischen Entwicklungen führt.

Darüber hinaus führt der neue Normalismus zur völligen Ausblendung der Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns, diese Verantwortlichkeit wird negiert. So wurde der Wirtschaftskrieg gegen Russland von der NATO begonnen und deutsche PolitikerInnen haben diesen sogar weiter zugespitzt, indem z.B. die deutsche Außenministerin relativ deutlich zum totalen Wirtschaftskrieg aufgerufen hat(21). Große Teile der deutschen Bevölkerung und zentrale AkteurInnen der Medien haben dies unterstützt. Damit tragen sie die alleinige Verantwortung für die Folgen. Russland von sich aus hatte keinerlei Interesse an diesem Wirtschaftskrieg und hätte ohne die Sanktionen weiter zuverlässig Rohstoffe, Düngemittel, Getreide(22) und Gas geliefert. Trotzdem tun die Verantwortlichen so, als wären auch die Folgen des von Deutschland und der NATO betriebenen totalen Wirtschaftskrieges Russland zuzuschreiben. Dies hängt wesentlich an der normalistischen Weltsicht, in der es aufgrund der normativen Setzungen gar keine Alternative zum Wirtschaftskrieg gab (TINA), als Reaktion auf den russischen Krieg gegen die Ukraine. Und dies obwohl gleichzeitig weiter der Handel mit Saudi Arabien (Krieg im Jemen, ein Krieg der sehr viel opferreicher und brutaler als der Ukrainekrieg geführt wird), der Handel mit der Türkei (Überfall auf die Gebiete unter kurdischer Kontrolle in Syrien) u.a. gefördert wird. Die Kritik dieser Doppelmoral wird im Normalismus aber als 'What aboutism' diffamiert, da der neue Normalismus die Maßstäbe der (Doppel)Moral als neue Moral festsetzt.

Zentral für die Glaubwürdigkeit der Kritik dieses neuen Normalismus vom Standpunkt der real nicht autoritären anarchistischen Linken aus, ist jedoch, dass eine klaren Abgrenzung von den politischen Fraktionen stattfindet, die den neuen Normalismus nicht deshalb kritisieren, weil sie den Normalismus ablehnen, sondern weil sie stattdessen den alten Normalismus der 1950er Jahre reinstallieren wollen. Im öffentlichen Diskurs wird die Kritik des neuen Normalismus leider häufig dominiert von AkteurInnen, die zurück wollen in ein imaginiertes heterosexuelles Disneyland der Kleinfamilie der 1950er Jahre mit klarer Rollenaufteilung. Aus dieser Richtung schwappt zur Zeit eine massive Welle an homophoben und antifeministischen Narrativen in den öffentlichen Diskurs. Auch dem muss sich eine nicht autoritäre anarchistische Linke klar entgegenstellen.

Abolish the New AND the Old Normalism from below!


— Ein Anarchist —, Juli 2022

Ende





Fußnoten

(1)Kommt Mausi raus?! ist ein für die Zeit (1994) an sich progressiver Comming-Out-Film einer jungen Frau vom Dorf, die in der Stadt ihr Comming Out hatte und nun ihr Heimatdorf besucht. Die Darstellungen 'der Anderen' im Film erinnert aber an die früheren Darstellungen von Schwulen und Lesben, wie sie im Film Zelluloid Closet für die 1950er und 1960er Jahre dokumentiert wurden. Insbesondere gilt dies für die Darstellung der Schwester und eines jungen Mannes aus ihrem Herkunftsdorf, der von den anderen dazu gedrängt wird, Mausi zu bedrängen. Explizit erfolgt in diesem Film die Abgrenzung der glücklichen Lesbe gegenüber anderen aus der heterosexuellen Ordnung normativ ausgegrenzten bzw. in dieser abgewerteten, in diesem Fall gegenüber den sexuell Erfolglosen.

(2) — Eileen ist eine junge Frau, die ihre Zeit mit einer Reihe von etwas seltsamen Aktivitäten füllt — wie dem Fahren auf Nebenstraßen und dem Durchführen von Bestattungsriten für überfahrene Tiere. Intimität lässt sie mehr über sich ergehen, als dass sie sie erlebt, wenn es überhaupt dazu kommt. Die meiste Zeit 'spioniert' sie jedoch andere in der kleinen Stadt in Minnesota aus, in der sie lebt — sie beobachtet leise die Gäste der Diners, schreibt Notizen und setzt gelegentlich ein Tonbandgerät oder eine Kamera ein. "Seit ich sehr jung war, fühlte ich mich wie eine Betrügerin", sagt sie und gesteht später, dass sie die Menschen oder das, was sie wollen", nicht verstehe. Es ist, als würde sie normale soziale Verhaltensweisen untersuchen. Als Kind Opfer sexueller Gewalt, hat sie ein distanziertes Verhältnis zu körperlicher Nähe und ist eine unauffällige Fremde in der Normalität. Der Film verwirft seine Protagonistin aber nirgends ob ihrer Unnormalität, sondern folgt ihr.

(3) — Die Normies als diejenigen, die gut integriert erfolgreich in der Gesellschaft, Universität oder Schule funktionieren und die die, die nicht ins Bild passen, die nicht die Normen erfüllen, ausgrenzen bis hin zum Mobbing und zu Gewalt, sind ein fester Topos gerade auch in kritischen Manga unabhängiger ZeichnerInnen, insbesondere auch bei ZeichnerInnen aus der LGBTIQA-Szene. Die explizite Ablehnung der Normies und die Verweigerung selbst zum Normie zu werden ist insofern ein Thema, welches in vielen Subkultur-Manga aber auch im Mainstream eine Rolle spielt.
Zwei Beispiele:
- Still Not Normal Today von U-temo: https://dynasty-scans.com/series/still_not_normal_today
- Adachi and Shimamura von Iruma Hitoma and Mani: https://dynasty-scans.com/series/adachi_and_shimamura

(4) — Bei dem Forum verweist schon der Name 4chan darauf, dass es sich um ein Manga und Animeforum handelt. Der Begriff 'chan' ist die Verniedlichungsform für in der Regel weibliche Mangaprotagonistinnen in etwa vergleichbar dem 'chen' im Deutschen, z.B. Christin'chen' oder Marie'chen' - die Endung 'chan' hat aber gleichzeitig eine intime Konnotation. Im Mangabereich gibt es sehr emanzipative Genres und er ist außerdem in Asien nicht unwichtig für die LGBTIQA+-Szene, gleichzeitig gibt es aber auch extrem Frauen verachtende und sexistische Manga und Anime bis hin zu offenen Gewaltphantasien und Frauenhass. Das heißt ein nicht unerheblicher Teil der 4chan Klientel waren zweifellos Männer und zum Teil sicher aus dem selbstdefinierten INCEL Bereich (Involuntary celibates). Hier hatten dann die Propagandisten rechtsradikaler Narrative Anknüpfungspunkte.
Hier einige Beispiele von Manga aus dem LGBTIQA+-Bereich:
Diverse Manga der Mangaka Takemiya Jin: https://dynasty-scans.com/authors/takemiya_jin
Watashi no Kanojo wa Otokonoko von Hina Rutarou: https://dynasty-scans.com/chapters/watashi_no_kanojo_wa_otokonoko
Fukakai na Boku no Subete o von Konayama Kata: https://dynasty-scans.com/ series/fukakai_na_boku_no_subete_o
Mine-kun is Asexual von Isaki Uta: https://archive.org/details/mine-kun-is-asexual

(5) — Reformismus - Reformistische Politik legt ihren Schwerpunkt auf die legalistischen Aktivitäten, vor allem den Parlamentarismus, im Sinne des gewaltfreien Anarchismus stünde dem gegenüber die Schwerpunktsetzung auf die gewaltfreie direkte Aktion und die Ausbildung von Parallelstrukturen. Mit Bakunin in der Interpretation von Johann Bauer ließe sich hier noch ergänzen, dass dort, wo Revolutionen in Gewalt umschlagen, dies als Zeichen des Scheiterns zu sehen ist, da es ab dem Moment nicht mehr um grundsätzliche Gesellschaftsveränderungen, sondern nur noch um den Austausch der Machtclique geht. Aus gewaltfrei anarchistischer Sicht, hört die Revolution dort, wo sie in Gewalt übergeht, auf revolutionäre Bewegung zu sein und verkümmert zum Reformismus, da Gewalt aufgrund der ihr inhärenten Hierarchien bezogen auf das anarchistische Ziel eine grundsätzlich antirevolutionäre Tendenz hat. Niemand kann Menschen mit Gewalt zur Freiheit zwingen. Dort, wo es aber eine Mehrheit mit dem entsprechenden anarchistischen Zielbewusstsein gibt, gibt es bei hinreichender Geduld und Entschlossenheit ausreichend gewaltfreie Widerstandsmöglichkeiten gegen gewaltsam agierende politische GegnerInnen.

(6) — Dies ist die Grundlage des Anarchismus und ist Grundlage fast aller relevanten Texte des Anarchismus von Emma Goldmann über Rudolf Rocker bis hin zu Michail Bakunin oder Peter Kropotkin.

(7) — Siehe hierzu z.B. die Texte von Michel Foucault aus den 70er Jahren, die Antipsychiatriebewegung, die Texte des spak (Sozialistisches PatientInnen Kollektiv) oder die Kritiken des Gefängnissystems.

(8) — Unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen sind diese Institutionen nicht verzichtbar, dazu müssen zuerst die Verhältnisse geschaffen werden. Eine Abschaffung z.B. der Polizei unter den gegebenen Bedingungen würde nur Willkürherrschaft stärken. Die Entwicklungen können nur sukzessive stattfinden und müssen den jeweils realen gesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung tragen. Eine immer weitergehende Ausweitung der Zugriffsbefugnisse, wie wir sie zur Zeit erleben, führt aber eindeutig in die falsche Richtung.

(9) — Dies ist eine weitere Grundlage der anarchistischen politischen Bewegungen.

(10) — Siehe dazu z.B. die diversen kritischen Aufgriffe marxistischer Theorie, z.B. Texte von Peter Brückner.

(11) — Das "Wir Impfen Euch Alle" ist hier nur die Spitze eines Eisberges an autoritären Gewaltphantasien, die auf einmal auch für erhebliche Teile sich selbst als antiautoritär verstehender Linker nicht nur akzeptabel, sondern zur Forderung wurden. In diesem Fall noch dazu, einer auf den Körper der anderen bezogenen sexualisierten Gewaltphantasie - des gewaltsamen Eindringen und Vollspritzens - also einer nur wenig kaschierten Vergewaltigungsphantasie.

(12) — Alfred Dregger - 1982 bis 1991 Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion - war ein Vertreter des rechten Flügels der CDU und klassischer Vetreter revanchistischer Positionen, der zusammen mit großen Teilen der CSU für eine Politik stand, die bestrebt war, rechts von der CDU/CSU keinen Raum für weitere Parteien zu lassen.

(13) — Revanchismus - Eine Politik der Revidierung von Realitäten, die sich historisch politisch entwickelt haben. Klassisch z.B. das Ziel der Revidierung der Ergebnisse des 1. Weltkrieges durch deutsche reaktionäre und nationalsozialistische Politikfraktionen in der Weimarer Republik und im NS. Im Kontext des Ukrainekonfliktes sind gleich mehrere Formen von Revanchismus sichtbar:

- Die von Russland durch den Angriffskrieg angestrebte Veränderung der Staatsgrenzen.

- Die von Teilen der mit der NATO verbundenen Politikfraktionen und den ihnen nahestehenden MedienakteurInnen angestrebte Umwertung des deutschen Angriffskrieges des NS-Staates gegen die Sowjetunion durch Gleichsetzung, Relativierung und teils sogar Umdeutung der Aktion Barbarossa zum Verteidigungskrieg vor der russischen Gefahr - auch damals schon -. Damit wird eine klassische revanchistische Argumentation der Legitimation des Angriffskriegs gegen die Sowjetunion bedient. Ein Artikel, der dieses Ziel verfolgte, wurde z.B. in der taz publiziert: Putin ist der zweite Stalin - 9.5.2022 taz - Julia Latynina - https://taz.de/Vom-Kult-des-Sieges-zum-Kult-des-Krieges/!5851531/ -.


(14) — Auch diese Kritik der grünen Politik war Anfang des Jahrtausends noch Konsens innerhalb der antiautoritären Linken. Verwiesen sei hier auf die diversen Publikationen zur Kritik der Wende der Grünen und ihnen nahestehender Publikationen hin zur Befürwortung von Kriegseinsätzen der Bundeswehr im Zuge des Jugoslawienkrieges.

(15) — Der Psychologe Stanley Milgram führte 1961 ein Experiment durch um festzustellen, inwieweit Menschen bereit sind anderen Schmerz und potentiell Schaden zuzufügen in einer Versuchsanordnung, in der ihnen eine Autoritätsperson dies Handeln vorgibt. Das Experiment wurde als Experiment über Gedächtnis- und Lernfähigkeit ausgegeben. Zufällig ausgewählte Probanden wurden damit beauftragt einer von ihnen getrennt sitzenden nicht sichtbaren Person Wortpaare vorzulesen und dann diese abzufragen, in dem sie nur jeweils ein Wort vorlasen, bei jeder falschen Antwort wurden sie aufgefordert, die antwortende Person einem Elektroschock mit im Laufe des Experiments steigender Intensität auszusetzen. Angeleitet wurden sie von einer Autorität ausstrahlenden Person im Labor/Arztkittel. Ausgeschrieben war das Experiment von Professor Milgram und durchgeführt wurde es an einer der angesehensten Universitäten der USA im psychologischen Fachbereich. Milgram ging es in Wahrheit darum zu testen, wie weit die Probanden den Anweisungen folgen würden, trotz eindeutiger Schmerz- und Angstbekundungen desjenigen dem, nach dem Wissen der Probanden, die Elektroschocks versetzt wurden. Real war dies ein Schauspieler und es gab keine Elektroschocks, dies wussten die Probanden aber nicht. Die Mehrzahl der Probanden war bereit Elektroschocks bis zu einer Größe von 450 Volt zu verabreichen. Milgram sah sein Experiment als Beispiel dafür, wie die Einsetzung einer respektierten Autoritätsperson und Unterordnung in konkreten Situationen bei Menschen zur Bereitschaft führen kann, grausam und gewaltsam gegenüber ihren Mitmenschen zu agieren. Die besondere Rolle, die ÄrztInnen/WissenschaftlerInnen und der ärztlichen/wissenschaftlichen Autorität als TäterInnenautoritäten in diesem Zusammenhang zukommt, wurde aber von ihm nicht thematisiert. Obwohl sein Ansatz auf dem Versuch beruhte, die Handlungen von TäterInnen im NS zu verstehen, wurde die besondere Rolle, die der Medizin und den MedizinerInnen/WissenschaftlerInnen bei der Legitimation der NS-Politik zukam, von ihm nicht spezifisch thematisiert.

(16) — Obwohl in ersten Jahren der NSDAP die Einbindung von Randgruppen z.B. aus esoterischen und anderen Spektren nicht irrelevant für die Partei war, gilt: Der NS-Staat war kein Phänomen, das von den Rändern der Gesellschaft her entstand, sondern aus einer Mitte der Gesellschaft, die sich selbst in einer Lage der Handlungsnotwendigkeit sah, um einen befürchteten und wahrgenommenen Niedergang bzw. eine drohende Gefahr für die Gesellschaft abzuwenden. Die am stärksten in der NSDAP organisierten Berufsgruppen waren ÄrztInnen und JuristInnen. Gegen Ende der NS-Zeit waren mindestens 45 Prozent der deutschen Ärzte in der NSDAP Mitglied. Damit stellten die Ärzte die Berufsgruppe mit dem weitaus höchsten Anteil an Parteimitgliedern. Bereits bis zu dem 1934 verhängten vorläufigen Aufnahmestopp waren über 30 Prozent der Ärzte Mitglied der NS-Partei geworden. Die NS-Nomenklatura begriff ihre Politik in wesentlichen Kernpunkten als Umsetzung des von ÄrztInnen/WissenschaftlerInnen vorgegebenen notwendigen Handlungsrahmens zur Verhinderung des weiteren Verfalls des Erbgutes der deutschen Bevölkerung und damit der Gesellschaft insgesamt. Dies galt für das eugenische Programm des NS-Staates, die rassenbiologische Gesetzgebung, aber auch für die technokratisch bürokratische Umsetzung der Massenvernichtung von Menschen in KZ. Die Rassenbiologie, auf die sich der NS-Staat bezog, war kein Randphänomen der Wissenschaften, sondern gehörte Anfang des 20ten Jahrhunderts zum damals akzeptierten Stand der Wissenschaft insbesondere unter Ärzten. Sie war soweit verbreitet, dass selbst ein Wissenschaftler wie Max Weber, der wichtigste deutsche Soziologe zu der Zeit, im Vorwort eines seiner bekanntesten Werke Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus sich Anfang des 20. Jahrhunderts genötigt sah, sich zu rechtfertigen, dass er keine rassenbiologischen Erwägungen mit einbezog. Die enge Verbindung der NS-Ideologie mit der Medizin und der biologischen Wissenschaft ihrer Zeit und die Einbindung von ÄrztInnen und WissenschaftlerInnen in den NS-Staat war ein wesentlicher Grund sowohl für die Akzeptanz der NS-Politik durch die Bevölkerung, als auch für die bürokratisch technokratische Exekution dieser menschenverachtenden Politik. Begriffen sich die TäterInnen, zumindest die in den Positionen des technokratischen Management des Massenmordes, doch als Ausführende der für die Rassenhygiene sachlich notwendigen Politik. Insofern ist Milgram gerade wegen seines, die medizinisch/wissenschaftliche Autorität und der von ihr ausgehenden Gefahr thematisierenden, Experiments hilfreich zum Verständnis der Grausamkeit des NS, obwohl Milgram selbst diesen Kontext nicht hervorgehoben thematisiert.

(17) — Die besondere Gefahr, die von einer Politik ausgeht, die sich als Exekution des wissenschaftlich/medizinisch Notwendigen begreift, wird auch in der aktuellen Pandemiepolitik deutlich. Unter Berücksichtigung der, von Milgram dargestellten und in Deutschland aus der Zeit des NS bekannten, Zusammenhänge der Folgen, der Unterwerfung der Politik und Gesellschaft unter die wissenschaftlich technokratischen Autoritäten, insbesondere die der Medizin, ist die Bereitschaft der Bevölkerung, diese Art der Pandemiepolitik weitgehend unkritisch zu affirmieren, zu begreifen. Und die völlige Fühllosigkeit wird verständlich mit der Lockdownopfer (z.B. kleine Selbstständige, denen die Existenz zerstört wurde) verhöhnt wurden, falls sie öffentlich protestierten, und mit der substantielle Lebensmöglichkeiten von Kindern beschnitten, Sterbende isoliert und kaserniert und abweichende Meinungen verfolgt wurden. Das Diktat der medizinischen Wissenschaft führt zur Verengung des Blicks, der alles was nicht ins virologische Tunnelraster passt ausblendet. Rein auf das Pandemiegeschehen bezogen steht Deutschland besser da als Länder wie Schweden, Schweden hat ca. 1,3 mal so viele Tote pro Kopf der Bevölkerung durch Covid 19 zu beklagen. Dies gilt aber nur im virologischen Tunnelblick, nur solange die Colataralschäden der deutschen Pandemiepolitik ausgeblendet bleiben.

(18) — Z.B. der Zuweisung eines Nachrichtenwertes zu sogenannten 'Busenblitzern' - Nachrichten bei denen sich die LeserIn jedesmal fragt, ob die AutorInnen ihre Pubertät nicht überwunden haben.

(19)"Keine Annäherung mehr mit Putins Regime!" - Michael Roth (SPD) im Gespräch mit den NachDenkSeiten - 14. Juli 2022 - https://www.nachdenkseiten.de/?p=85825

(20) — Siehe Ende Fußnote 13

(21) — Die deutsche Außenministerin Baerbock sprach im Februar 2022 davon, dass die Wirtschaftssanktionen "Russland ruinieren" würden, dies ist nichts anderes als die Erklärung eines totalen Wirtschaftskrieges und dies wurde in großen Teilen der Öffentlichkeit beklatscht. Für die Folgen dieses Wirtschaftskrieges verweigern die grünen SpitzenpolitikerInnen aber die Verantwortungsübernahme.

(22) — Hier ist auch anzumerken, dass auch die weitere Zuspitzung der Hungerproblematik in ärmeren Regionen der Welt, nicht nur auf den kriegsbedingten von Russland zu verantwortenden Ausfall eines Teils der ukrainischen Produktion zurückzuführen ist, sondern sogar im stärkeren Maß auf die Sanktionspolitik, die sowohl den Handel mir russischen Getreide und Düngemitteln fast unmöglich gemacht hat (Blockade des Zahlungssystems SWIFT/ Blockade Transportkapazitäten Schifffahrt), als auch wesentlich zur weiteren Steigerung der Energiepreise beigetragen hat (die als wesentlicher Faktor, die Lebensmittelpreise der industrialisierten Landwirtschaft bestimmen). In einer Situation, in der sich bereits vorab aufgrund der Pandemiepolitiken und einer rein am (finanz)kapitalistischen Mehrwert orientierten Politik die Hungerproblematik zugespitzt hatte, erfüllt die von Deutschland mitgetragene NATO-Sanktionspolitik in diesem Punkt den Tatbestand des Massenmordes.



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Aktualisiert 22.05.2023