Das richtige Leben im Falschen


Es gibt richtiges Leben. Nicht das richtige, viele richtige. Dieses richtige Leben wird aber zunehmend in die Unsichtbarkeit abgedrängt. Der Theoretiker Jean Baudrillard sprach bereits in den 1990er Jahren von der Simulation als der perfekten Form des Mordes. Was er damit meinte war, dass die Simulationen an die Stelle des richtigen Lebens treten, dass sie es so vollständig überdecken, das es nicht mehr wahrgenommen wird.

Das richtige Leben ist in sich widersprüchlich, nicht eindeutig, nicht glatt und immer wieder anders. Damit entzieht es sich dem Tauschwert, entfaltet eine Widerständigkeit gegen das zur Ware werden und gegen die Logiken der Verwaltung. Die Unterordnung des Lebens unter die Simulation ist die moderne Form der Herrschaftsdurchsetzung, die die Funktion der früheren direkten Disziplinarmechanismen übernommen hat, bzw. die die aktuellen Disziplinartechnologien organisiert und optimiert.

Selbst die meisten AnarchistInnen haben sich der Herrschaft der Simulation ergeben, viele machen sich sogar selbst zu ihren willfährigen SklavInnen und tragen dazu bei, auch noch die letzten Winkel des richtigen Lebens zu überdecken und so die Auslöschung zu unterstützen.

Die Herrschaft der Simulation hat viele Gesichter. Sie schiebt sich überall über die Realität und löscht sie aus:

- Dies gilt dort, wo die Modelle der Realität, die mathematisierten Berechnungssysteme, die klischierten Erklärungen, die einfachen Wahrheiten, die spieltheoretischen Modellierungen, als wichtiger angesehen werden, als die Erfahrung des Realen selbst;

- Diese Auslöschung passiert auch dort, wo das werbetechnisch optimierte virtuelle Abbild, sei es auf den neuen Märkten der Plattformökonomien, den asozialen Netzwerken des Web, oder in der alten Medienlandschaft der analogen Welt, an die Stelle des Subjekts tritt und das richtige Leben verdeckt wird;

- Diese Verleugnung des Lebens zeigt sich auch in den formierten Körpern, die als Kunstkörper, als enthaarte glatte Plastikschreine, den fühlbaren, schwitzenden, atmenden und riechenden Körper zunehmend ersetzen;

- Und auch die identitäre Vereindeutigung des Eigenen und ihre Abgrenzung zum Anderen, die zum Anker des Selbst wird nichtet dadurch gerade dieses Selbst in seiner realen Widersprüchlichkeit.

Es geht nicht mehr um die Auseinandersetzung mit richtigen Menschen, nur noch um die Manipulation der Simulationen, ihre Optimierung und Beherrschung. An die Stelle kritischer rationaler Auseinandersetzung mit anderen und mit der Realität treten:

- Das Nudging, das auch von 'Linken' gerne übernommene Beeinflussungsprinzip der Fliege im Pissoir;

- Die für die jeweilig bevorzugte Simulation der Realität, sei es Facebook, Twitter, Youtube, u.a optimierten Einflusskampagnen, deren Ziel die Dominanz in der jeweiligen Simulation ist, zumindest bezüglich der anvisierten Targetgruppen, und die an Stelle realer Auseinandersetzungen mit realen Menschen treten und diese ins Abseits drängen;

- Das Sozialunternehmen, dass Menschen und soziale Beziehungen nur noch in ihrer Warenform, daß heißt der Warensimulation, und als MarktakteurInnen überhaupt als existent begreift;

- Die Kampagnenplattform, die Klicks gleichsetzt mit Menschen und die Simulation von Politik mit komplexen politischen Organisationsprozessen zwischen Menschen verwechselt und damit sowohl diese Menschen als real lebende, als auch die Organisationsprozesse negiert.

Als wäre dies alles nicht schon unterwürfig genug werden inzwischen, und im Sinn dieses Denkens nur konsequent, auch die politischen und utopischen Ziele selbst auf Warensimulationen reduziert, die vermarktet werden sollen. Dazu müssen diese politischen Warensimulationen dann 'gut aufgestellt werden', alles störende ist zu entfernen und glattzuschleifen:

- Als Warendingen wird ihnen nur dann eine Berechtigung zugesprochen, wenn sie sich auf den Märkten der Klicks, Follower und Likes auch gut und ohne Hemmungen verkaufen lassen. Ist doch Käuflichkeit die höchste Tugend in der Simulation und das Gekauftwerden das höchste Glück;

- In Unterordnung unter Herrschaft und Unterdrückung wird in Verdrehung der Begriffe der 'Selbstorganisation' und der 'Selbstbestimmung', in diesem Kontext, dann unter diesen Begriffen auch nicht mehr die widerstänge Organisation von Gegenmacht begriffen, sondern entsprechend, die Selbstoptimierung der Selbstdarstellung für den Markt der politischen Ideenhülsen. So dass inzwischen selbst Verfahren wie das Coaching, die Erhöhung der Gleitfähigkeit innerhalb von Herrschaftsprozessen, als Mittel zur Förderung dieser Form der 'Selbstbestimmung' vermarktet werden;

- Durch Warensimulationen politischer Identitäten, die der Subjektsimulation wie einer Kleiderpuppe übergestülpt werden können, kann sich dieses dann immer angezogen entsprechend der politischen Mode der Saison selbst vermarkten.

Die Selbstverwarung des Subjektes, das sich selbst und andere zur Ware machen, schreitet voran auch in der gewaltfreien und anarchistischen Szene. Insbesondere die in den technischen Strukturen des Internet und in den mit ihm verbundenen 'neuen' Ökonomien materialisierten Disziplinarstrukturen werden an vielen Orten unhinterfragt dupliziert. An die Stelle der Realität treten die gefilterten Daten und virtuellen Gerüchte über diese. Und der Kampf geht nur noch darum, sich in diesem Rahmen optimal zu verkaufen. Die Angst aus dem Rahmen zu fallen, verunmöglicht Freiheit. Doch es ist nie zu spät sich zu wehren.

Kampf dem Simulacrum, der Herrschaft der Simulation über das richtige Leben!

Boykottiert Facebook, Twitter, .. — boykottiert die asozialen Netzwerke!
Boykottiert die Selbstverwarung, macht Euch nicht zur Ware!

Schafft Orte der kritischen komplexen sich selbst reflektierenden Auseinandersetzung mit anderen Interessierten — real Live — organisiert Euch widerständig!

Fight TINA (There Is No Alternative) — es gibt immer eine Alternative!

Alternativen sind nicht, vorhanden oder nicht vorhanden. Alternativen werden durch politischen Widerstand und Organisationsprozesse geschaffen.


— Ein Anarchist —, Februar 2022

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Aktualisiert 22.05.2023